Geben Sie ein Buch ins Altpapier? Und wenn nicht – warum eigentlich nicht...?
Eigentlich haben wir modernen Menschen heute doch ein nüchternes Verhältnis zu Büchern. Im Zeitalter des elektronischen Lesevergnügens spielt auch die materiale Gestaltung eines Buches, seine Größe, sein Material, sein Geruch, keine Rolle mehr. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb betrachten wir ästhetisch gut gestaltete Bücher mit haptisch ansprechendem Papier und schön gestalteten Illustrationen als etwas Besonderes. Wir ahnen, dass ein optisch ansprechendes Buch uns als eine eigene Persönlichkeit entgegen tritt, die uns sagen will: Mein Inhalt ist so wichtig, dass dafür auch eine gut gestaltete äußere Form notwendig ist.
Für das mittelalterliche Judentum in Deutschland und Nordfrankreich (auch Aschkenas genannt), dessen besonderes intellektuelles und kulturelles Erbe mit seiner sakralen Architektur, seinen Friedhöfen mit den kunstvoll gestalteten Grabsteinen und seinem literarischen Nachlass jüngst mit der Auszeichnung als Unesco Weltkulturerbe gewürdigt wurde, stellten insbesondere die Herstellung seiner heiligen Schriften und religiösen Literaturen eine besondere Herausforderung dar. In dieser Ausstellung zeigen wir Ihnen besondere Bücher des mittelalterlichen aschkenasischen Judentums. Es sind Bibel- und Gebetbücher, Kommentare und andere gelehrte Schriften, die zeigen, welche besondere Rolle Bücher im Leben der mittelalterlichen Juden spielten. Ein besonderer Schwerpunkt wird auf den mittelalterlichen Bibelhandschriften im Themenfeld 3 liegen.
Die sieben Themenfelder umfassen
Die Torarolle wird auf Hebräisch sefer tora genannt. Im modernen Hebräisch bedeutet sefer einfach 'Buch', aber im Biblisch-Hebräischen konnte damit auch eine Rolle gemeint sein. Die Torarolle wird bis heute auf Pergament geschrieben, das Hebräische ist unvokalisiert und enthält auch keine Akzente oder andere Lese- und Rezitierhilfen. Außer kleinen Verzierungen enthält eine Torarolle keinerlei Schmuckelemente oder Illustrationen.
Die Hebräische Bibel, auch: das Alte Testament (*TaNaKh*) wurde von den Juden im babylonisch-persisch-palästinischen Kulturraum zwischen dem 5. und 3. Jahrhundert v.u.Z. auf Hebräisch und Aramäisch verfasst. Weil beide Alphabete aber zu Beginn keine Vokale umfassten, wurde über Jahrhunderte hinweg ein reiner Konsonantentext überliefert. Selbstlaute musste man sich dazudenken. Ins Deutsche übertragen würde der letzte Satz also lauten: "Slbstlt msst mn sch dzdnkn." Es entstanden zwar Systeme von Hilfsvokalen – Konsonantenzeichen, die die Lautung angeben sollten –, es bestand dennoch die Gefahr von Missverständnissen und unterschiedlichen Lesungen.
Bei heiligen Texten wie der Bibel war freilich Eindeutigkeit geboten. Daher bemühten sich die als Rabbinen bezeichneten Gelehrten schon in der Antike darum, die Schreibung möglichst jedes einzelnen Worts durch Zusatzinformationen festzulegen.
Die Anfertigung ist von der Pergamentherstellung über die Art der Schreibfeder bis zur Anmischung der Tinte (Vitrio-Gallapfel-Mischung) minutiös festgelegt. Bis heute gibt es eigene Tora-Schreiber, die auch die kleinen Pergamentstücke in den Kapseln der Gebetsriemen (tefillin) und der Mesusa schreiben. Ihr Dienst gilt als heiliger Dienst, und sie sind in der jüdischen Gemeinschaft hoch angesehen.
Anders als eine Torarolle im sefardischen Judentum, die in einem Holz- oder Silberkasten aufbewahrt wird, trägt die aschkenasische Torarolle einen 'Mantel', der mit Glöckchen und Granatäpfeln verziert ist. Sie erinnert damit an die Bekleidung des Hohepriesters Aharon (Ex. 28) und symbolisiert damit, dass zwischen Gott und Israel einzig die Torarolle die Mittlerstellung einnehmen darf.
Die Autorität der heiligen Schrift (= 'schriftliche Tora') liegt darin, dass sie zum Auslegen autorisiert (= 'mündliche Tora'). Die sifre qodesh, die heiligen Bücher, sind also nicht nur solche, die eine bestimmte Handhabung erfordern (das machte sie zu reinen Objekten), sondern auch solche, die mit denen, die mit ihnen umgehen, etwas machen (das macht sie zu Subjekten).
Die Frage, was heilige Bücher sind, muss also für das Judentum differenzierter beantwortet werden, weil es nicht allein um den Inhalt dieser Schriften geht, sondern auch um ihre Herstellung, ihre artefaktische Qualität, ihre Handhabung, ihr soziales Feld usw. Die Schwierigkeiten, vor die sich andere Religionsgemeinschaften bisweilen gestellt sehen, wonach ein heiliger Text eine immerwährende Gültigkeit (zu haben) hat und dies durchaus mit modernen Vorstellungen von Gesetz, Ethik oder Menschenbild kollidieren kann, hat das Judentum dadurch gelöst, dass man den ‚garstigen Graben‘ zwischen einem immer gültigen Text und einer sich je und je neu gestaltenden Wirklichkeit nicht einfach auf Kosten des einen oder anderen zu überbrücken versuchte. Vielmehr wird beiden Seiten durch die Differenzierung in Performanz und Diskurs – aufgeteilt auf die entsprechenden Artefakte – Genüge getan (Tabelle 1).
Für die hebräische Buchentwicklung ist der Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der sog. masoretischen Codices und der Entwicklungsgeschichte des Quran entscheidend. Nach der islamischen Tradition wurde der Quran von Anfang an als Folio-Sammlung auf Pergament geschrieben und zu einem Codex (arab. muṣḥaf) zusammengefügt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Entstehung der großen masoretischen Codices zu verorten, ging es doch darum, die „Vierundzwanzig Bücher“ – d.h. die Tora, die prophetischen Bücher (Nevi’im) und die Schriften (Ketuvim) – in eine Bucheinheit (hebr. miṣḥaf) zu bringen.
Diese Codices zeichnen sich dadurch aus, dass der Konsonantentext nun mit Vokalen ausgestattet wurde und an den vier Rändern statistische, grammatische und linguistische Kommentare notiert waren. Man nennt diese Randkommentare Masora und ihre Verfasser Masoreten. Die berühmtesten unter ihnen arbeiteten im heutigen Tiberias, das damals kulturell vor allem vom Islam geprägt wurde. Einige dieser Gelehrten, die Bibeltexte seit dem frühen Mittelalter kopierten, sind sogar namentlich bekannt, z.B. Schemu’el bar Yaaqov, der sich im Kolophon des berühmten Codex Leningradensis verewigt hat.
Schon der Babylonische Talmud berichtet, dass die Tora 5888 Verseinheiten und 304805 Buchstaben umfasst, aber der Talmud kannte noch keine Codices. Diese entstehen erst ab dem 9. Jahrhundert. Einige dieser orientalischen Bibelcodizes aus dem 10. und 11. Jahrhundert sind noch heute erhalten. Diese ältesten bekannten hebräischen Bibeln in Buchform entstanden in Tiberias unter dem Einfluss der islamischen Kultur, und sie ähneln dementsprechend in ihrem Erscheinungsbild dem Quran.
Die jüdischen Gelehrten, vor allem die Familien ben Asher und ben Naftali, strebten dabei an, den unvokalisierten hebräischen Text, aber auch bestimmte hebräische Sprachformen durch Hinzufügung von Vokalen und Akzentzeichen zu stabilisieren. Außerdem notierten sie statistische Daten (Vorkommen von Wörtern oder Schreibweisen) und kurze Kommentare an den vier Rändern einer Codexseite, um Manipulationen und inhaltlichen Veränderungen vorzubeugen.
Man nennt diese Randkommentare Masora und ihre Verfasser Masoreten. Die masoretischen Randnotizen halfen, den Textbestand zu fixieren und dabei grammatikalische Abweichungen auszumachen. Äußerlich waren sie nicht besonders spektakulär: Normalerweise wurde der Text in möglichst kleinen Buchstaben linear an die oberen wie unteren Seitenränder gesetzt, um ihn von rechts nach links auf einer Zeile lesen zu können. Nur auf den Anfangs- oder Endseiten eines Kodex wurde er kreativ gestaltet, barg dann aber keine wichtigen philologischen Informationen, sondern im Wesentlichen die Namen der Schreiber und einige Segenssprüche. Nur Schreiber konnten solches Expertenwissen verwenden, und auch heute ist die Gruppe derer, die sich professionell mit der Masora beschäftigen, sehr klein.
Äußerlich waren die masoretischen Kommentare in den tiberiensischen Bibelcodices nicht besonders spektakulär: Zumeist wurde der Text in möglichst kleinen Buchstaben linear an die oberen wie unteren Seitenränder gesetzt, um ihn von rechts nach links auf einer Zeile lesen zu können. Manchmal fanden sich auch am Ende des Buches Zusammenstellungen in Listenform.
Dieses Manuskript ist ein Pentateuch, der neben den masora figurata Illustrationen auch Illustrationen enthält, die nicht aus Mikrographie gestaltet sind. Das Manuskript stammt eher aus dem späten 13. Jahrhundert und wurde von einem gewissen...
...Chayyim geschrieben, der sich mit seinem Namen in die Segensformel am Buchende (fol. 313v) eingeschrieben hat.
Man nimmt heute an, dass die großformatigen und nicht aus Mikrographie bestehenden Dekorseiten zu Beginn der einzelnen Bücher des Pentateuch aus einer christlichen Werkstatt stammen.
Die Mikrographien in diesem Manuskript sind kleinformatiger und vor allem an den Texträndern ausgestaltet:
Man findet aber immer wieder einzelne biblische Themen, die motivisch klar erkennbar aufgenommen werden, so beispielsweise...
...Motive aus der Erzählung von den Traumdeutungen Yosefs im Gefängnis (z.B. Gen 40,16–19), Pharaos Backwerk, das Vögel wegfraßen (hier: nur ein Greifvogel),
...den Widder, der sich Avraham zeigte, damit er ihn anstelle seines Sohnes opferte (Gen 22),
...die Leiter, die Yaaqov auf der Flucht im Traum sah (Gen 28) oder...
...eine Waffe (Helmbarte; Hellebarde), die sich im Kontext der Erzählung von Yosef und seinen Brüdern findet, und die auf die Idee der Brüder verweist, Yosef umzubringen (Gen 37,18–20).
Ob einer der beiden Köpfe hier auch Chayyim oder doch eher den auf diesen Seiten stets prominenten Mose darstellen soll, wird uns das Manuskript wohl nicht mehr preisgeben ...
Hinter diesem Manuskript, das in der Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben wurde, verstecken sich mehrere Schreiber. Da ist zum einen Baruch, der wahrscheinlich den biblischen Haupttext schrieb, in dem er an zwei Stellen dezent auf seinen Namen verwiesen hat, indem er das hebräische Wort baruch 'gesegnet' an zwei Stellen hervorhob:
Die Handschrift hat ihren Namen von der berühmten mikrographischen Darstellung des Propheten Yonah, wie er gerade im Maul des Fisches (nicht: des Wales!) steht. Auch der biblische Text schreibt in Jona 2,1 von einem 'großen Fisch' (dag gadol). Man beachte, dass dieser Fisch Schuppen und Flossen besitzt, und damit den jüdischen Speisegesetzen entspricht. Dass Yonah hier steht, ist auch kein Zufall: Der Masoret hat hier eine Passage aus dem Midrash Pirqe de Rabbi Eliezer (Kap. 10) eingearbeitet, wo beschrieben wird, dass Yonah dem Fisch befahl, still zu stehen, damit er beten könne.
Unter den mikrographischen masora figurata Illustrationen des Yonah Pentateuch sind drei Ritter hervorzuheben. Der erste wird als Falkner dargestellt, der mit Lederhandschuhen und dem typischen Barett ausgestattet ist und seinen Vogel an seiner rechten Hand befestigt hat. Der Hund am linken Bildrand (durch die Buchbindung nicht ganz zu sehen) verweist auf eine Jagdszene. Hunde dieser Art wurden zumeist als symbolische Verkörperung der christlichen Verfolgungen angesehen, denen Israel unterworfen war. Manchmal wurden sie auch mit den Dominikanern (domini canes) identifiziert.
Der zweite wird als Yosef vorgestellt, der gegen die biblische Beschreibung in Gen 41,43 auf einem Pferd reitet und nicht, wie in Gen 41,43 beschrieben, in einem Wagen sitzt. Dies geht möglicherweise auf den mittelalterlichen Kommentator Shmuel ben Meir (Rashbam; ca.1088–ca.1158) zurück, der erklärte, dass auch der Vize-König auf einem (Schlacht-)Ross zu sitzen habe.
Der dritte Ritter, der auf diesem Blatt auf die links am Bildrand befindliche Burg zureitet, ist mit Speer, Schild, Helm und Rüstung sehr gut ausgestattet. Der Helm sieht wie ein Topfhelm aus, wie sie seit den 1220er Jahren vor allem in Turnieren zum Einsatz kamen.
Wie in fast allen aschkenasischen Manuskripten steht eine Text-Bild-Bestimmung der einzelnen Motive noch in den Anfängen und hat bislang noch kein klares Bild erbracht. Deutlich wird aber, dass unsere Handschriften gegenüber den späteren Druckausgaben noch eine Fülle weiterer Anspielungen und Themen enthalten, die in späterer Zeit verloren gingen, weil man figurative Masora nicht drucken kann, und weil die christlichen Hebraisten mir derlei 'Spielereien' nichts anzufangen wussten.
Die beiden Manuskripte Paris BNF hébr. 5 und Paris BNF hébr. 5 gehören zu einer Bibel (Bd. 1 Tora, Band 2: Propheten und Schriften), deren Format –533 x 373 mm– bereits erkennen lässt, dass diese Bibel keine reine Handausgabe war, sondern möglicherweise im synagogalen Gottesdienst verwendet wurde. Monumentalbibeln enthalten oftmals auch den Targum und wurden im synagogalen Gottesdienst dazu verwendet, den Vorleser, den sog. Ba‘al Qore, bei der Toralesung zu kontrollieren, und den Targum versweise nach der Rezitation aus der Tora-Rolle vorzulesen.
Der aramäische Targum war ursprünglich nicht einfach eine schriftliche Bibel in anderer Sprache ist, sondern hat zunächst mündlich, dann aber auch schriftlich, die Lese- und Rezitier-Performanz des kanonisch genau geregelten hebräischen Textes auslegend begleitet. Ein Bibeltext wird immer wieder neu ausgelegt, erklärt und adaptiert, entsprechen seinem je eigenen kulturellen und zeitlichen Kontext. Der Targum ist daher Teil der mündlichen Tora. Die Rabbinen unterschieden aber sehr deutlich zwischen dem Rezitieren der Tora − also der rituell bis ins Detail festgelegten Wiedergabe der Wörter − und der Darlegung ihrer Bedeutung. Dies zeigt sich auch an den Vorgaben zur rituellen Performanz: Vorleser und Übersetzer (meturgeman) durften personell nicht identisch sein: Der Vorleser (ba‘al qore) fokussierte sich auf die Torarolle, der Übersetzer musste aus dem Gedächtnis rezitieren. In dieser Linie liegt es daher auch, dass die späteren gaonäischen Quellen wie Massekhet Sofrim und Massekhet Sefer Tora, nicht zufällig also gerade solche, die sich mit Schreiberregularien befassen, eine Übersetzung grundsätzlich ablehnen: Hier wird der Tag, an dem die Septuaginta angefertigt wurde, mit dem Tag verglichen, an dem man das Goldene Kalb gegossen hatte. Schon der Talmud hatte daher formuliert (bQidd 49a): „Wer einen Schriftvers streng wörtlich übersetzt, lügt; wer hinzufügt, lästert Gott.“ Noch im Mittelalter wurde im aschkenasischen Kulturaum im syngogalen Ritus aus der Targum vorgelesen.
Auch an dieser Bibel waren sowohl für den Haupttext als auch für die Masora mehrere Hände beschäftigt. Der Schreiber des Haupttextes, Shlomo ha-Cohen, outet sich in beiden Bänden, ein Zeichen dafür, dass man vermutlich schon zur Zeit der Herstellung der Bibel eine zweibändige Ausgabe geplant hatte. Aus den Kolophonen erfahren wir, dass er die Bibel im jüdischen Jahr 5055 geschrieben hat, das entspricht dem gregorianischen Datum 1294/95.
Die masoretischen Illustrationen sind besonders ausgestaltet. Wie auch in MS London BL or. 2091 sowie weiteren Handschriften aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert, sind insbesondere die Titelblätter oftmals ganzseitig oder halbseitig um das Initialwort herum gestaltet und fungieren damit in gewisser Weise als "Türöffner" für das ganze biblische Buch.
Der Beginn des Buches Bereshit (Genesis) zeigt beispielsweise neben einem Greifen, einem Hasen und zwei Löwen (einer trägt sogar eine Krone auf dem Kopf) noch weitere geflügelte Phantasietiere, die man nicht leicht identifizieren kann.
Besondere Sorgfalt ließen die Masoreten bei der mikrographischen Darstellung des Hohenpriesters Aharon und der im Buch Schemot (Exodus) beschriebenen Geräte für die Einweihung der göttlichen Wohnung walten (Ex 25–31.35-40. Fol. 117r–118v zeigen (u.a.): Aharon als Priester mit den heiligen Geräten
die Menora, der siebenarmige Leuchter, der von zwei Phantasiewesen getragen wird, die den zeitgenössischen christlichen Drôlerien ähneln...
...sowie einen (Oliven-)Baum mit drei Zweigen zur Rechten und zur Linken sowie drei menschlichen Figuren (zwei von ihnen tragen den typischen Judenhut) bei der Olivenernte. Ob diese Illustrationen einen Hinweis auf die in Sach 4,1–6.11–14 beschrieben Vision von den Zweigen der Ölbäume als Symbol für die zwei Gesalbten, den Priester und den dawidischen König, darstellen sollen, ist weiteren philologischen und kunsthistorischen Untersuchungen vorbehalten.
Eine weitere auffällig Mikrographie findet sich als Eingangsillustration zum Buch Schemuel (Samuel) die eine bewehrte Stadt mit Türmen, Fanfarenbläsern und bewaffneten Figuren zeigt. Die Türme sind mit Löwenköpfen versehen, die Schläfenlocken tragen. Man hat auch hier einen Hinweis auf das ersehnte Wiedererstehen des davidischen (messianischen) Reiches gesehen, aber auch hier gilt es, zunächst das Text-Bild-Verhältnis en détail zu untersuchen.
Mit der Auslegung nach dem Literalsinn (peshat), der Juden Nordfrankreichs im 11. Jh. und 12. Jh. verbindet bis heute vor allem der Kommentar des R. Schelomo Yitzḥaqi (Rashi; ca. 1040—1105). Rashis Kommentar ist noch heute der Grundlagentext der jüdischen Bibelauslegung. Er fehlt in keiner traditionellen Bibelausgabe. Was die handschriftliche Überlieferung und/oder die heutigen Druckausgaben angeht, ist die judaistische Mediävistik allerdings in einer weitaus weniger komfortablen Lage als ihre christliche Schwester, denn sehr viele Manuskripte gingen kurz nach ihrer Entstehung verloren oder wurden zerstört.
Biographisch ist über den großen Kommentator fast nichts bekannt: Er lebte zwischen 1040 und 1105 in Troyes in der Champagne und verbrachte seine Lehrjahre in den berühmten Akademien im Rheinland in den sog. ShUM-Gemeinden (Speyer, Worms und Mainz). Die Überlieferung sah wohl so aus, dass Rashis Schüler anfangs seine mündlichen Kommentierungen mitschrieben und aufzeichneten, manchmal auch verbesserten oder ergänzten. Die Manuskripte zu den Rashi-Kommentaren lassen daher auch eine Menge zur Rezeptionsgeschichte erkennen.
Viele jüdische Quellen des Mittelalters sind durch Verfolgungen ihrer Besitzer und Zerstörungen von deren Hab und Gut verloren gegangen. Daher sind auch viele Texte erst aus späterer Zeit erhalten und nicht aus der Zeit ihrer Entstehung. Mittelalterliche Autographen haben wir für die hebräisch-aramäischen Literaturen des Mittelalters praktisch gar nicht.
Auch den Rashi-Kommentar hat es nie gegeben, jedenfalls nicht vor seinem Eintritt in die Welt des Buchdrucks. Die handschriftlichen Textzeugen, die wir haben, stammen aus einer deutlich späteren Zeit und sind alles andere als einheitlich: Das älteste Manuskript München, BSB, Cod. hebr. 5 (reiner Kommentartext) wurde 1233 in Würzburg kopiert, und stellt gleichzeitig das älteste datierte aschkenasische illuminierte Manuskript dar. Die zweite wichtige Rashi-Handschrift Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms. hebr. 1 (B.H. fol. 1) stammt aus dem 13. Jh. (undatiert) und enthält neben dem masoretischen Bibeltext (inklusive eklektisch annotierten masoretischen Glossen) den Targum sowie einen dem Rashi zugeschriebenen Kommentar, der seinerseits eine Reihe Glossierungen von Rashis wichtigstem Schüler, Schema‘ya, sowie dem Schreiber, Machir, enthält. Das dritte Manuskript Wien, ÖNB, Cod. hebr. 220 (Wien 23) ist ebenfalls undatiert, stammt jedoch erst aus dem 13./14. Jh.
Dieses Manuskript ist die älteste bekannte Fassung des Raschi-Kommentars. Es wurde 1233 von einem gewissen Schelomo ben Schemuel in Würzburg kopiert und ist vor allem für seine Illuminationen bekannt, die wahrscheinlich aus einer christlichen Werkstatt stammen. Geometrische Formen, die den Text unterteilen, sind oft farbig ausgestaltet wie beispielsweise das Ende des Buches Bereschit (Genesis). Hier finden sich auch reine Illustrationen, die nicht aus Mikrographie gestaltet sind.
Berühmt ist die in grün, rot, blau und gold gestaltete Menora. Sie ist so gezeichnet, dass sie exakt dem Kommentar des Raschi entspricht, der zu Exodus 25,32 erklärt hatte, dass sich die Seitenarme schräg nach beiden Seiten in die Höhe ziehen und bis zur Höhe des Leuchters im mittleren Rohr emporreichen sollten, weil die Höhe ihrer Spitze mit der Höhe des mittleren, des siebten Rohres, aus dem die sechs Arme hervorgingen, gleich war. Damit stellt die Handschrift ein sehr gelungenes Beispiel für eine positive Zusammenarbeit jüdischer und christlicher Gelehrter dar.
Auffällig ist die Karte zu Num 34, die die Grenzen des Landes Kanaan abbildet. Diese Karte ist sehr sorgfältig ausgearbeitet, mit farbig abgesetzten und verzierten Umrissen, sauberer Beschriftung und geometrisch exakt gezeichneten Formen. Man kann an ihr die Komplexität des Raschi-Kommentars zur Beschreibung der Ländergrenzen von Kanaan sehr gut erahnen.
Nahezu alle erhaltenen Manuskripte des Raschi-Kommentars zum Pentateuch enthalten zu Numeri 33–34 zwei Kanaan-Karten, von denen die Numeri 34-Karte bedeutsam ist, weil sie zum einen über die gedruckten Superkommentare zu Raschi (Misrachi) auch in die frühen Drucke und damit bis in die Gegenwart tradiert wurde, und zum andern weil sie die genauen Außengrenzen Kanaans (Erets Israel) beschreibt und damit bestimmt, in welchen Bereichen die für das heilige Land bestimmten Gebote (mitzwot) gelten. Raschi legt besonderen Wert auf die geographische Begrenzung, weil dies die Ausübung der 613 biblischen Gebote betrifft:
"Da viele der Gebote im Land gelten, nicht jedoch außerhalb des Landes, war es notwendig, die anliegenden Grenzen und umliegenden Gebiete zu beschreiben, um mitzuteilen, dass (nur) innerhalb dieser Grenzen diese Gebote gelten" (Raschi zu Num 34,2).
Damit wird zum einen der biblische Text zur jüdischen Lebenswelt des 11. bzw. 12. Jhs. in Nordfrankreich relationiert; zum anderen reflektieren der geschriebene Kommentar und die gezeichnete Karte den Stand des geographischen Wissens Raschis zu Kanaan / Erets Israel. Raschi und seine Zeitgenossen waren Zeitzeugen des 1. Kreuzzugs unter Gottfried von Bouillon und des fränkischen Königreichs von Jerusalem unter Balduin I. Die damit einhergehende Frage, wem und in welchen Umrissen das Heilige Land gehöre, war für die Juden von existentieller Bedeutung. Der Raschi-Kommentar zu Num 34,1–15 (und mithin die Num-Karte Raschis) zählt dabei identifizierbare Ortslagen zur Bestimmung der Außengrenzen Kanaans auf, wie sie der biblische Text in der letzten Gottesrede an Mose (Num 34) überliefert.
Auch Handschrift Leipzig 1, eine aschkenasische Pentateuch-Ausgabe mit Targum und Megillot, bietet auf Leipzig 1 fol. 161r eine masora figurata, die die berühmte Raschi-Karte zu Num 34 zitiert.
Der Masoret dieser Handschrift verfolgt mit dieser Zeichnung mehrere Ziele: Er möchte zum einen in diese liturgische Pentateuchausgabe den Raschi-Kommentar zu den Landesgrenzen Kanaans / Erets Israels integrieren, was mit einer gezeichneten Karte sehr viel eindrücklicher und platzsparender gelingt als mit Raschis ausformuliertem Kommentar. Er möchte aber zum anderen die masora magna nicht einfach linear auflisten, sondern mit dem Raschi-Kommentar verknüpfen, damit die masoretischen Annotationen nicht als optionale statistische "Fußnoten", sondern als wichtige exegetische Information wahrgenommen werden, wodurch ihre Integration auch in einen liturgischen Pentateuch gerechtfertigt ist. An diesem Beispiel zeigt sich exemplarisch, warum eine rein kunstgeschichtliche Erschließung die Komplexität der masora figurata nicht aufzuschlüsseln vermag.
Andere Informationen zeigt indes der Rashi-Kommentar aus der Handschrift Wien ÖNB hebr. 220. Hier sehen wir, dass sich Rashis Schüler in ganz eigener Form in die Handschrift hineingeschrieben haben. Manche dieser Schüler, die man auch Tosafisten nennt,...
Für das jüdische (wie auch das christliche) Mittelalter ist es manchmal sehr schwierig, hinter Texten einzelne 'Autoren' auszumachen, denn das Verständnis von geistigem Eigentum und die Fortschreibung von Texten größerer Autoritäten waren durchaus anders als man das aus der heutigen Plagiatsdiskussion kennt.
Dies gilt auch für die Überlieferung der Raschi-Kommentare. Zu seinen wichtigsten Schülern und Mitstreitern gehörten neben seinem Gefolgsmann und Chronisten R. Schema‘ya (ca. 1060—1130) auch seine Enkel R. Schemuel ben Meïr ('Rashbam'; ca. 1088—nach 1158), R. Ya’aqov ben Meïr (Rabbenu Tam; ca. 1100—1171) sowie R. Yosef ben Shim‘on, der 'Qara' (ca. 1050—1125), der seinen Beinamen (hebr. קרא) seiner Tätigkeit als Bibel-Lehrer und Vorleser verdankte.
Man nennt diese Schüler manchmal auch Glossatoren oder Kopisten, aber die aus dem lateinischen Mittelalter bekannten terminologischen Unterscheidungen zwischen scriptor, compilator, commentator und auctor lassen sich nicht so ohne Weiteres für die hebräischsprachigen Texte übernehmen. Schwierig ist auch, dass die Handschriften des Raschi-Kommentars mindestens 100 Jahre jünger sind als die in ihnen genannten Tosafisten.
...sind namentlich bekannt: R. Schema‘ya (ca. 1060—1130), R. Schemu’el ben Meïr ('Rashbam'; ca. 1088—nach 1158), und R. Ya’aqov ben Meïr (Rabbenu Tam; ca. 1100—1171), zwei der Enkel Rashis, sowie R. Yosef ben Shimon, der 'Qara' (ca. 1050—1125). Da allerdings Schemuel oder Yosef durchaus häufiger vorkamen, haben sich Spätere dazu entschieden, die erklärenden Zusätze dieser und anderer wichtiger Raschi-Schüler in verschiedenen Formen an den Rand des Blattes zu setzen, um sofort zu sehen, welcher Kommentator hier eine Erklärung oder einen Zusatz formuliert hatte.
Diese besonderen Layout-Formationen in den Handschriften zeigen uns, dass spätestens seit dem 13. Jahrhundert das Bedürfnis bestand, Kommentare einzelnen Gelehrten präzise zuordnen zu können und damit das bis dahin geltende Prinzip der Erstellung einer 'glossa', d.h. einer Kommentarsammlung mit anonymen Zusätzen, aufzubrechen. Und noch eines wird deutlich: Anstelle des Bibeltextes wird hier eine Rezension des Raschi-Kommentars glossiert, und damit wird auch Rashi bereits zu einer eigenen textlichen Autorität.
Dieses Manuskript enthält eine Fassung des babylonischen Talmuds, eine der wichtigsten Textsammlungen des Judentums. Der Talmud umfasst die (sechs Ordnungen der) Mischna und die sog. Gemara zur Mischna. Der Talmud wurde einer palästinischen Version ca. 400 u.Z. und in einer babylonischen Fassung ab 500 u.Z. verfasst. Heute gilt vor allem der babylonische Talmud als maßgebliche talmudische Autorität.
Unter Talmud versteht man die Zusammenstellung rabbinischer Kommentare von Gelehrten aus sieben Generationen, die ‚Amoräer‘ genannt werden, zu 36 Traktaten der Mischna. Man nennt diese Kommentierungen auch Gemara (‚Vollendung‘).
Allerdings wurden nur 36 von 63 Traktaten (sog. massekhet) mit einer Gemara versehen. Der Talmud wurde einer palästinischen Version ca. 400 u.Z. und in einer babylonischen Fassung ab 500 u.Z. verfasst. Heute gilt vor allem der babylonische Talmud als maßgebliche talmudische Autorität. Die ersten Teil-Handschriften des babylonischen Talmuds stammen aus dem 9. Jahrhundert und wurden in der Geniza von Kairo gefunden. Auch andere Manuskripte wie MS Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. Hebr. 19 (geschrieben 1184) oder Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale in Florence as Ms. II-I-7 (geschrieben 1177) enthalten nur einzelne Traktate.
Den ersten Druck des babylonischen Talmuds besorgte Daniel Bomberg in Venedig 1520–23. Die dort vorgenommene Anordnung von Mischna und Gemara sowie der Kommentare von Rashi und den Tosafot einschließlich der Seitenaufteilung und Zählung der Folia blieb für alle späteren traditionellen Talmuddrucke maßgeblich, von denen die Edition Wilna (Rom) die wohl bekannteste ist. Heutige kritische Ausgaben (z.B. A. Steinsaltz 1967ff.) haben sich allerdings von dieser mise-en-page und mise-en-texte gelöst.
Die Besonderheit der Münchner Talmudhandschrift besteht darin, dass sie die erste vollständige Rezension des babylonischen Talmud umfasst und uns heute über die Rezeption des babylonischen Talmud im aschkenasischen Kulturraum informiert. Die Handschrift enthält den Talmud in einem Band und wurde anno mundi 5103 = 1342 u.Z. in Paris geschrieben. Seine Maße von ca. 27 x ca. 21 cm lässt ihn gegenüber den Monumentalbibeln klein wirken und weist ihm daher eher die Aufgabe einer Handausgabe zu.
Es finden sich mehrere Kolophone,...
...eines auf fol. 563v nach Massekhet uqtzin 'Stiele' und...
...eines auf 501r am Ende von Massekhet qinnim 'Vogelnester', in denen der Schreiber Schelomo ben Schimschon genannt ist, der "alle sechs Ordnungen (der Mischna)" geschrieben habe. Schelomo hat seinen Namen darüber hinaus auch auf weiteren Seiten verschiedentlich kenntlich gemacht, z.B. durch kleine florale Elemente (367r) oder durch Akrosticha (438v). Da allerdings in beiden Kolophonen der Name mit einer Gedächtnisformel für Verstorbene ergänzt wurde, ist nicht ganz eindeutig zu entscheiden, wer das Kolophon tatsächlich verfasst, geschrieben und/oder geändert hat. Da auch an manchen Stellen in den Kolophonen Spuren von Radierungen erkennbar sind, liegt hier auf jeden Fall schon eine manipulierte Fassung vor. Der hier genannte Auftraggeber Matatya ben Yosef war zwischen 1360 und 1385 Oberrabbiner von Paris und Frankreich; er war aber wohl nicht der erste Besitzer der Handschrift.
Der Schreiber hat sehr sorgfältig gearbeitet: Die Anfänge der Traktate Schabbat und des Traktates Rosch ha-Schana 'Neujahrsfest' aus der zweiten Ordnung Mo‘ed Festzeiten (Fest- und Feiertage) zeigen dies exemplarisch: Die Mischna wird hier in aschkenasischer Quadratschrift geschrieben und auf der Seite durch entsprechende Ränder gut lesbar hervorgehoben; die Gemara schrieb er in aschkenasischer Semikursiv-Schrift, ähnlich wie auch Bibelkommentare geschrieben wurden, um die Gemara von der Mischna deutlich abzusetzen. Auch der Gemara-Text weist immer wieder Spatien auf, die das Lesen der vielstimmigen Diskussionen erleichtern und dem Leser sofort ein übersichtliches Textlayout bieten sollen.
Die Handschrift hat keine farbigen Schmuckseiten. Auf S. 388r (Massechet Eduyot) findet sich aber zumindest ein graphischer Textteiler.
Für heutige Leser:innen ist erstaunlich, wieviel Text der Schreiber Schelomo auf eine Seite bekam: Vergleichen wir die Manuskriptseite fol. 8r (den Beginn der Massechet Schabbat) mit der noch heute (auch in traditionellen elektronischen Ausgaben) gebräuchlichen Ausgabe Wilna (Romm) so stellt man fest, dass fol. 8r – Beginn Mischna: יציאות השבת und Gemara: תנן התם שבועות שתים und Ende der Seite לשתי רשויות בזמן – in der Wilna-Ausgabe die Blätter 2a–6a umfasst.
Dieses Gebetbuch (Machsor) für die Hohen Feiertage Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, und dem Versöhnungstag (Yom Kippur), die auch als yamim noraim gelten, kommt nicht aus dem aschkenasischen, sondern dem sefardischen Kulturraum und wurde zwischen 1325 und (spätestens) 1354 in Barcelona geschrieben. Es enthält neben den regulären Gebeten vor allem die zusätzlichen religiösen poetischen Texte (piyyutim) zu den Hohen Feiertagen.
Die Besonderheit dieses katalanischen Machsor, weshalb wir ihn in die Ausstellung aufgenommen haben, besteht in seinen 23 ganzseitigen großformatigen Mikrographien, denen aber manchmal auch nicht-mikrographische und farbige Illustrationen beigegeben sind. Daneben finden sich auch kleinere mikrographische Zeichnungen im gesamten Manuskript.
Die Besonderheit des Maḥzor Catalonia, der in der Forschung auch der katalanische mikrographische Machsor genannt wird, liegt darin, dass seine Mikrographien nicht, wie bei den hier vorgestellten Bibeln, aus masoretischem Material besteht. Vielmehr stammt der Text (u.a.) vor allem aus den Psalmen sowie aus weiteren Psalmen aus 2Sam 22–23,9 und anderen biblischen Texten, aus den halachischen Vorschriften des R. Yitzchaq ben Yaaqov (Yitzchaq Alfasi/RIF) aus Fez (1013–1103) zum Talmudtraktat Massekhet Rosch ha-Schana (4b–6a) sowie einem persönlichen Bittgebet (baqascha) von R. Shelomo ben Adrret aus Barcelona (ca. 1235–ca. 1310).
Der Schreiber des Machsor ist nicht bekannt; Formgebung und Stil der Mikrographien weisen jedoch auf einen Schreiber-Artisten hin, der sich nach der neueren judaistischen Kunstgeschichte im Dunstkreis des katalanischen Malers Ferrer Bassa (st. 1348 in Barcelona) aufgehalten haben muss.
Dieser Machsor "für das ganze Jahr" stammt aus Aschkenas und wurde von einem Schreiber namens Schelomo bar Yehuda im 13./14. Jahrhundert geschrieben.
Er enthält nicht nur Gebete und piyyutim, sondern auch halakhische Vorschriften, z.B. für die Beerdigung oder den Schabbat, sowie auch Familieneinträge und -register und Illustrationen.
Der Schreiber hat Textanfänge manchmal sogar farbig hervorgehoben, z.B. den Anfang des Yotzer Ayelet Ahavim Mattanat Sinai für den 2. Tag des Wochenfestes (Schavuot)...
... oder den Beginn des Yotzer Melech amon Ma'amrekha für Rosch ha-Schana.
Das Gebet Ha-Poteach lanu Sha'are Rachamim 'der uns die Tore des Erbarmens öffnet' für den Morgengottesdienst des Yom Kippur ist umgeben von einer Kampfszene sowie den Toren, die mit drachenartigen Wesen verbunden sind.
Der Esslinger Machsor hat eine bewegte Geschichte hinter sich.
Der erste Teil der Handschrift (139 folia) befindet sich heute im Jewish Theological Seminary in New York; der zweite Teil (127 folia) in der Rosenthaliana in Amsterdam. Der Esslinger Machsor stellt eines der ältesten datierten aschkenasischen Manuskripte dar.
An der Herstellung dieses Machsor waren mehrere Personen beteiligt: Der Schreiber – Kalonymos ben Yehuda – nennt sich auf fol. 127r des zweiten Bandes und gibt als Datum den 28. Tewet 5050 = 12. Januar 1290 an. Vokalisiert wurde die Handschrift zur selben Zeit vom Punktator (naqdan) Yosef, der sich auch als Yosgris vorstellt.
Der Machsor ist nicht besonders illuminiert, weist sich jedoch durch ein sehr differenziertes Seiten- und Textlayout aus.
Im mittelalterlichen Nordfrankreich war das Altfranzösische (die langue d’oïl ) in Wort und Schrift die Landes- und Umgangssprache sowohl für die christliche als auch für die jüdische Bevölkerung. Bevor die Juden aus Nordfrankreich vertrieben wurden, war die jüdische Gelehrtenelite kulturell so weit integriert, dass sie ihren Bibel- und Talmuderklärungen französische Übersetzungen beigaben, die sie unterschiedlichen literarischen Genres entnahmen. Die Besonderheit dieser Übersetzungen ins Französische, der sog. Le‘azim besteht darin, dass sie in hebräischer Graphie geschrieben wurden. Sie wurden für so wichtig erachtet, dass sie in eigenen Glossaren gesammelt wurden, die zumeist aus dem 13. Jahrhundert stammen. Sie bieten eine textchronologisch fortlaufende Erklärung des biblisch-hebräischen Bibel-Lemmas ins Altfranzösische (alphabetisch oder Bibeltext-chronologisch), die zumeist mit einem innerbiblischen Parallelverweis und/oder einem rabbinisch-hebräischen Synonym ergänzt wird. Heute sind neben zahlreichen Fragmenten sechs umfangreichere Glossare mit bis zu 30.000 solcher Glossareinträge (Ms Paris BNF hébr. 302) erhalten.
Die Glossare erklären das Biblisch-Hebräische in seinen Besonderheiten gegenüber dem rabbinischen Hebräisch, versuchen aber auch, biblische Wörter, z.B. Tier- und Pflanzennamen für das französisch-jüdische Lesepublikum zu erklären. Sie gehören damit unmittelbar zur Gelehrtentradition.
Die Glossare zeigen, dass die Juden in Nordfrankreich profane und geistliche französische Literatur kannten und lesen konnten. Sie beherrschten damit nicht nur die hebräische, sondern auch die französische Sprache in Wort und Schrift, was ihren hohen Bildungsgrad erkennen lässt. Man darf nicht vergessen, dass nicht einmal die Ritter in aller Regel lesen und schreiben konnten.
Das Layout der Glossare ist ausgesprochen relevant für die Frage, wo sie mit welcher Funktion eingesetzt wurden. Die Glossare lassen hier große Unterschiede erkennen. Manche sind sehr sorgfältig in Spalten eingeteilt: ganz rechts steht das Bibellemma, dann folgt die altfranzösische Übersetzung in hebräischer Graphie (La‘az), es folgt eine weitere Spalte mit innerbiblischen Parallelverweisen und/oder eine weitere Spalte mit einem Wort in rabbinischem oder mittelalterlichem Hebräisch, wie in diesem Glossar Paris BNF hébr. 301 gut zu erkennen ist.
Auch das Leipziger Glossar kennt diese Spalteneinteilung, enthält aber sogar eine weitere Spalte mit mittelhochdeutschen Glossen:
In einem so aufgebauten Glossar kann man schnell ein Wort oder eine Erklärung nachschlagen, wahrscheinlich für den Bibelunterricht oder das eigene Studium. Leider geben die Glossare nicht viel über ihre Herkunft und Verwendung preis. Das Leipziger Glossar wurde wahrscheinlich von einem gewissen Schimschon geschrieben; viel mehr wissen wir nicht.
Demgegenüber scheint die Handschrift Paris BNF hébr. 302 ein ‚ohne Punkt und Komma‘ in durchgehenden Zeilen notiertes und darin extrem unübersichtliches Glossar zu sein. Hier ist kein schnelles Auffinden möglich, und wir können davon ausgehen, dass es bei einer kontinuierlichen Bibellektüre verwendet wurde.
Die Glossare legen beredtes Zeugnis darüber ab, wie intensiv das mittelalterliche Judentum Nordfrankreichs mit den Vernakularliteraturen Nordfrankreichs gelebt und gelernt hat. Es ist dies ein Aspekt des mittelalterlichen aschkenasischen Judentums, den man noch weitaus stärker erforschen muss als dies bisher der Fall war.
Auch das Buch Ochla we-Ochla gehört zur mittelalterlichen aschkenasischen Gelehrtenkultur. Ochla we-Ochla ist eine mittelalterliche Listenkompilation, deren Listen zumeist alphabetisch oder nach den biblischen Lemmata, manchmal aber auch nach nicht einsichtigen Kriterien zusammengestellt wurden. Diese Listen enthalten Zusammenstellungen von Wörtern mit spezifischer Schreibung, extraordinärer Punktation, besonderer Form der Buchstaben, besondere Akzente usw.
Heute sind zwei Listenkollektionen unter dem Namen Ochla we-Ochla bekannt, die beide mehrere Hundert Listen umfassen.
Die Handschrift MS Paris BnF hébreu 148 wurde nicht vor Anfang des 14. Jahrhunderts in Süddeutschland geschrieben. Das Manuskript hat kein Kolophon, das uns Auskunft über den Schreiber geben könnte, sodass heutige Datierungen hauptsächlich auf kodikologischen Untersuchungen, d.h. das Manuskript selbst betreffende Prüfung von Herstellung und Material, und paläographischen Vergleichen, d.h. die Schrifttype betreffende Forschungen, basieren.
Das Buch Ochla we-Ochla, benannt nach seinem ersten Wortpaar aus Gen 27,19 und 1Sam 1,9 gehört zu den masoretischen Listentexten, wie sie sich teilweise auch in den tiberiensischen Bibelcodices finden. Solche Listen wurden schon früh in Listensammlungen zusammengestellt und unabhängig von den Bibeln abgeschrieben und tradiert. Die ersten Funde stammen auch hier wieder aus der Kairoer Genisa . Diese waren allerdings nicht so umfangreich wie die heute unter dem Namen Ochla we-Ochla bekannten Listenzusammenstellungen. Diese wurden im aschkenasischen Mittelalter zu umfangreichen und von den Bibelausgaben unabhängigen Listensammlungen zusammengestellt.
Es gibt heute zwei Listenkollektionen, die unter dem Namen Ochla we-Ochla bekannt sind und als solche auch tradiert wurden. Einzelne Listen finden sich auch in den tiberiensischen Bibelcodices; in ihrem Umfang reichen sie aber an ihre orientalischen Parallelen nicht heran: Die erste Handschrift, die heute in der Universitätsbibliothek von Halle aufbewahrt wird, MS Halle Yb 4° 10, bietet 170 Listen im ersten (סימני מסורת) and 343 Listen im zweiten Teil (סדרא אחרינא), während eine spätere Handschrift, die heute in der Bibliothèque Nationale in Paris liegt, MS Paris BnF hébreu 148, insgesamt 374 Listen umfasst. Die Kompilationen sind nicht ganz identisch, haben aber gemeinsam, dass sie nach systematischen Gesichtspunkten strukturiert sind. Das heißt: Die Listen wurden nach einem spezifischen Thema sortiert und folgen damit einem technischen und analytischen Arrangement.
Die Ochla-Kollektionen sind Wissenssammlungen zum Text der Hebräischen Bibel, ihrer Sprache und ihrer Grammatik. Diese Listen sind Zeugnisse hochspezialisierten Wissens und sie wurden von Masoreten und Grammatikern erstellt und verwendet, um Stoff zu klassifizieren und zu ordnen, der wiederum in Gelehrten-Diskursen verwendet werden sollte. Jeder, der diese Listen benutzte, tat dies nicht, um sich theologisch, exegetisch oder religionsgesetzlich weiterzubilden, sondern um Bibelverse/-worte von der Seite der hebräischen Sprachwissenschaft zu erklären und zu klassifizieren. Anders als ihre maghrebinischen und spanischen Zeitgenossen, die ihre sprachwissenschaftlichen Werke unter dem Einfluss der islamischen Sprachwissenschaft zunächst auf Arabisch verfassten, sind die Erklärungen im Buch Ochla we-Ochla Hebräisch und Aramäisch und nehmen ihren Ausgang beim Bibeltext selbst, nicht bei isolierten grammatischen und sprachwissenschaftlichen Themen. Ochla we-Ochla ist damit ein einzigartiges Zeugnis für die aschkenasische Sprachwissenschaft im ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhundert.
..., dass gerade die verschlüsselten Bibelhandschriften vor allem in Frankreich und Deutschland im ausgehenden 12. und 13. Jahrhundert auftauchen. Es könnte sein, dass diese Codices im Gefolge der zunehmenden Hebraisierung in christlichen Kreisen (Dominikaner) einerseits und der durch die Inquisition veranlasste Zerstörung hebräischer Bücher andererseits geschrieben wurden: Bibelhandschriften mit kleinen hübschen Buchstaben, die als Ritter, Hase oder Greifen gestaltet waren, enthalten Sinnebenen, die von christlichen Hebraisten nicht erschlossen werden konnten. Und ob man dies intendierte oder nicht: Das in diese Handschriften eingeschlossene masoretische Listenmaterial, wie auch die umfangreiche Klage des Abersush, sind doch bis heute gesichert überliefert worden, weil hebräische Bibelcodices nicht der Zerstörung hebräischer Bücher im Zuge der Ketzerverfolgungen anheimfielen.
Mit dem Druck, der spätestens Anfang des 16. Jhs. sehr einflussreich von christlichen Druckern dominiert war, starb auch die westeuropäische aschkenasische Text- und Lerntradition aus, und die Tradition des mündlichen Lernens von einem Lehrer anhand von Individualexzerpten auf der Basis einer enormen Pluralität der Manuskriptkulturen ging vielfach unter. Von den aschkenasischen Klassikern der Bibelauslegung wie vor allem der halakhischen Traditionsliteratur blieb nicht viel übrig.
Ein neuer hebräischer Kanon entstand, eine neue religiöse Bibliothek, die zunehmend weniger von den Juden, sondern vor allem von den christlichen Buchdruckereien und für christliche Bedürfnisse gestaltet wurde.
Durch den hebräischen Buchdruck wurde mithin das Verstehen der Hebräischen Bibel im Kontext des christlichen Bildungsideals nicht nur einseitig christlich, sondern tatsächlich auch unter Ausschluss der spezifisch jüdischen Lesarten zementiert. Dies führte dazu, dass der jüdischen Seite im wissenschaftlichen (universitären) Diskurs-Raum die Lese- und Deutekompetenz ihrer Hebräischen Bibel für lange Zeit abgesprochen wurde. Dies hat sich erst seit der Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts geändert. In Deutschland sollte es noch lange dauern: In Heidelberg gibt es seit 1979 an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg einen Lehrstuhl für Jüdische Bibelauslegung (aber außerhalb der Universität). 2020 wurde an der Universität Potsdam ein Lehrstuhl für Jüdische Bibelwissenschaften eingerichtet.
Eine Ausstellung des Lehrstuhls für Bibel und jüdische Bibelauslegung an der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg
im Rahmen des DFG-Langzeitforschungsvorhabens "Corpus Masoreticum"
Prof. Dr. Hanna Liss
Clemens Liedtke, M.A.
Bettina Burghardt, M.A.
Ekaterina Gotsiridze
Jüdische Gemeinde Heidelberg und Rabbiner J.E. Pawelczyk-Kissin
Prof. Dr. Ronny Vollandt, Ludwig-Maximilians-Universität München
Projekt "Corpus Masoreticum"
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
Landfriedstraße 12
69117
Heidelberg, Germany
Angaben gemäß § 5 TMG:
DFG-Langzeitvorhaben „Corpus Masoreticum“
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
Landfriedstraße 12
69117
Heidelberg
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Prof. Dr. Hanna Liss
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